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Unter Ost-Berlins Straßen

von Manfred Hoffmann

Im November 1960 begann ich 25jährig meine Laufbahn (so nannte man das damals) bei der U-Bahn als Bahnhofsschaffner (Bsch), 1961 wurde ich Zugabfertiger (Za), 1962 Zugbegleiter (Zb) für das Großprofil (Grp), 1963 Zugfahrer (Zf), 1965 Zugprüfer (Zpf), 1971 schließlich Fahrmeister (Fm). Ab 1990 konnte ich aus gesundheitlichen Gründen keinen Fm-Dienst mehr leisten und stand der BVG für Sonderdienste zur Verfügung. Ab Juli 1994 begann die Zeit, auf die ich schon immer gewartet hatte: Ich werde Ruheständler. Trotz Wechselschicht, Sonn- und Feiertagsarbeit und ständig wechselnder Arbeitsplätze habe ich gern bei der BVG gearbeitet. Wie bei jeder beruflichen Tätigkeit gab es Sonnenschein und Schatten, schöne Erlebnisse und eine Vielzahl von Störfällen ...

Alltag auf den Transitstrecken

Behinderungen besonderer Art ergaben sich aus der Teilung Berlins. Die U-Bahnlinien C und D (heute U6 und U8) führten ja unter dem Ostsektor hindurch. Da gab es jeweils 6 Bahnhöfe, auf denen bis zum 12. August 1961 ganz normal gehalten wurde. Dann aber änderte sich dort alles, natürlich auch für uns von der BVG-West. Anfangs wurde damit gerechnet, daß der Osten seine Streckenteile der Linie C (ca. 3,6 km) und der Linie D (ca. 4,3 km) für die Durchfahrt völlig sperren würde. Dazu kam es dann doch nicht, aber die Züge mussten ohne Halt die Strecken durchfahren. Lediglich auf der C-Linie wurde der Bahnhof Friedrichstraße u.a. für den Umsteigeverkehr zur S-Bahn und für den Grenzverkehr offengehalten, vorerst u.a. für West-Berliner, später auch für DDR-Bürger im Rentenalter, die West-Berlin besuchen durften. Die übrigen elf Bahnhöfe wurden verschlossen und zum Teil zugemauert. Die Grenzbahnhöfe Stadtmitte (Mic), Walter-Ulbricht-Stadion (Wus, heute Schwartzkopffstraße), Heinrich-Heine-Straße (He) und Bernauer Straße (B) wurden von Grenzsoldaten, die anderen Bahnhöfe von der Bahnpolizei [*] bewacht.

Die vier vorgenannten Bahnhöfe wurden als Grenzbefestigung ausgebaut und mit Grenzsicherungseinrichtungen ausgerüstet. Im Tunnel, in Grenznähe, wurde über jedes Gleis ein stählernes Rollgitter angebracht, welches in der Betriebsruhe, falls keine Nachtfahrten stattfanden, herabgelassen wurde . Auf den Bahnhöfen B, Wus und Mic wurden am südlichen Bahnsteigende, auf dem Bahnhof He am nördlichen Bahnsteigende bunkerähnliche Bauten errichtet, die mit schießschartengroßen Fenstern versehen und mit Scheinwerfern und Lautsprechern ausgerüstet waren. Jeweils vor den Bunkern wurden die Bahnsteigkanten auf mehreren Metern entfernt. Die Luftschächte in den Tunneln, die auch Notausgänge waren, wurden zugeschweißt. Wenn ich diese Bahnhöfe heute sehe, frage ich mich: Hat es das alles wirklich mal gegeben?

Die Höchstgeschwindigkeit für die Fahrten durch die im Ostsektor gelegenen Bahnhöfe betrug 25 Stundenkilometer, für die freie Strecke 50 Stundenkilometer. Hin und wieder, vor allem abends, kam es vor, daß ein Fahrgast bei der Durchfahrt durch einen dieser Bahnhöfe eine Wagentür aufmachte und einfach heraussprang. In der Regel wurde das auf dem ersten Bahnhof in West-Berlin von Fahrgästen dem Bahnhofspersonal gemeldet, das diesen Vorfall sofort der Verkehr- U-Bahn- Meldestelle (VUM, später Betriebsleitstelle U-Bahn, BLU) meldete. Der Verbleib dieser Personen war nicht bekannt; es gab Gerüchte, nach denen sie einige Zeit in Rummelsburg festgehalten und dann nach West-Berlin abgeschoben wurden.

Alle außerplanmäßigen Zugfahrten mußten mindestens 20 Minuten vorher telefonisch der DZU (Dispatcherzentrale U-Bahn, so nannte sich die U-Bahn- Meldestelle in Ost-Berlin)  gemeldet werden. Nachtfahrten mußten mindestens vier Tage vorher schriftlich angemeldet werden. Alle Verspätungen über zwei Minuten mußten ebenfalls der DZU gemeldet werden. Über die Telefonvermittlung der BVG konnten die beiden Leitstellen miteinander kommunizieren. Einmal meldete die DZU, daß eine Rentnerin, die wieder nach Hause (Köpenick) wollte, ihren Paß in der U-Bahn verloren habe. Da der ungefähre Zeitpunkt des Verlustes sowie die Fahrtrichtung bekannt waren, konnten die in Frage kommenden Züge über Funk angesprochen werden, ferner die Za und der Endbahnhof. Und tatsächlich, der Paß wurde gefunden und konnte der Frau zum Bahnhof Friedrichstraße geschickt werden. Zwischen Mitarbeitern der VUM und der DZU wurden nur dienstliche Meldungen ausgetauscht; mal ein privates Wort zu wechseln, dazu ist es meines Wissens bis zum 9. November 1989 nie gekommen.

Die Fahrmeister, die für die Linien C und D zuständig waren, waren angewiesen, die Oststreckenteile mindestens einmal pro Dienst zu durchfahren, um eventuelle Veränderungen an der Strecke oder auf Bahnhöfen festzustellen und zu melden. Ab Anfang der siebziger Jahre wurden nach und nach alle Linien und auch die Züge im Großprofil mit Funk ausgestattet. Im Ostsektor durften aber keine Antennen gelegt werden, so daß Funksprüche erst wieder in West-Berlin abgegeben werden konnten. Die Benutzung der Zug- oder Handfunkgeräte war im Ostsektor verboten.

Der Transitverkehr auf den Linien C und D klappte so bald fast reibungslos, und mit der Zeit gewöhnte man sich an die Besonderheiten auf diesen U-Bahnlinien. Aber überall, wo Züge fahren, kommen auch mal Störungen vor: Signalstörungen, Zugschäden, Fahrstrom-Unterbrechungen, Fahrgastunfälle und dadurch verursachte Zugstockungen. Über die Behandlungen solcher Vorfälle gab es Vorschriften. Passierte so etwas im Ostteil, mußte daran gedacht werden, daß einiges anders laufen konnte als gewohnt. Ich habe drei Störfälle in Erinnerung, von denen zwei kleine “Ost-Besonderheiten” aufwiesen. Also der Reihe nach.

[2] Zwischenfall am 22.Juni 1962 auf der Linie D Alexanderplatz

Freitag, der 22. Juni 1962. Mein Fahrer Rolf Hartwich und ich als sein Zugbegleiter hatten unseren ersten Spätdienst auf der Linie D. Es war auf der letzten Runde, 23.44 Uhr ab Leinestraße (L) nach Gesundbrunnen (Gb), als wir um 23.57 Uhr auf dem Bahnhof Alexanderplatz (Ap) von Männern in grünen Uniformen durch laute Rufe zum sofortigen Anhalten aufgefordert wurden. In barschen Ton wurde uns gesagt, wir sollten unseren Zug verlassen. Rolf zog die Handbremse an, und wir stiegen aus. Den Fahrgästen wurde gesagt, daß sie die Türen nicht öffnen dürften. Der Anführer dieser etwa 15 Mann starken Truppe wies seine Leute an, ins Gleis zu springen und Richtung Weinmeisterstraße zu gehen. Rolf protestierte, er müsse erst den Kurzschließer ziehen, um die Stromschiene stromlos zu machen; betriebsfremde Personen dürften laut Vorschrift das Gleis bei eingeschaltetem Fahrstrom nicht betreten. Die “Grünen” verboten ihm lautstark Wort.

Der auf dem Bahnhof diensttuende Bahnpolizist [*] erklärte mir, als die anderen weg waren, daß er selbst von diesem Vorgang völlig überrascht wurde, er uns aber erst weiterfahren lassen dürfe, wenn er dazu telefonisch aufgefordert würde. Ich ging zur Zugabfertigerin (in der ersten zeit nach dem Mauerbau waren die Bahnhöfe noch mit U-Bahn-Personal der BVG-Ost besetzt) und bat darum, telefonieren zu dürfen. Ich rief die DZU an und schilderte die Situation, mit der Bitte, auch die VUM zu verständigen und die Züge auf Voltastraße (Vo) und Moritzplatz (Mr) zurückzuhalten und nicht in Richtung Ap fahren zu lassen. Wie ich später erfuhr, klappte auch das tadellos.

Gleich darauf hörte ich lautes Schimpfen des Bahnpolizisten [*]. Ein männlicher Fahrgast hatte eine Wagentür geöffnet und urinierte - über der 750 Volt Gleichstrom führenden Stromschiene! Auch wenn die Schiene eine Abdeckung hatte: Das hätte was geben können!

So gegen 0.20 Uhr ging das Bahnhofstelefon, und wir erhielten die Genehmigung zur Weiterfahrt, aber nur mit höchstens 15 Stundenkilometern. So juckelten wir also Richtung “Plumpe”, wie der Berliner den Ortsteil Gesundbrunnen nennt. Als wir von Rosenthaler Platz (Ro) den Berg nach B hinauf schlichen, sahen wir das Einfahrsignal 638 in der Haltlage, also rot. Schon etwa 50 Meter vor diesem Signal bemerkten wir Soldaten mit Maschinenpistolen und Zivilisten im Nebengleis und zwischen den Tunnelpfeilern. Wir hielten also vor dem roten Signal, ich schaute aus meiner Zb-Tür und sah, wie drei Zivilisten in den letzten Wagen unseres 4-Wagen-Zuges klettern. Nach Verständigung meines Zugfahrers begab ich mich durch die Schlußtüren in den letzten Wagen. Die Zivilisten forderten die Fahrgäste auf, sich auszuweisen, und kontrollierten die Ausweise. Von mir nahmen sie keine Notiz. So gingen sie von Wagen zu Wagen, einige Soldaten unten im Gleis gingen in gleicher Höhe immer mit. Im dritten Wagen, der kontrolliert wurde, saß ein männlicher Fahrgast, der sich nicht ausweisen konnte. Er mußte auf freier Strecke den Wagen verlassen; die Soldaten nahmen ihn in die Mitte und brachten ihn weg. Das war ja nun ein dicker Hund: Menschenraub aus einem Transitzug! Nach Fortführung der Kontrollen verließen die drei Männer den Zug und wiesen uns an weiterzufahren.

Wir fuhren also nach Fahrdienstvorschrift los, bis wir kurz vor der Bahnhofseinfahrt Bernauer Straße nochmals halten mußten, weil uns drei untereinander angeordnete rote Lichter entgegenleuchteten: das Notsignal. Dieses Signal, vom Bahnhof aus zu betätigen, darf nur eingeschaltet werden, wenn eine Person ins Gleis gefallen ist oder dem einfahrenden Zug Gefahren drohen. Der Bahnhofsarbeiter dieses Bahnhofes erzählte uns nun aber, daß er auf Anordnung dieser Leute, die dann in den Tunnel gingen, den Notsignalschalter tätigen mußte. Wir überzeugten uns, daß keine Gefahr vorlag, und fuhren über Voltastraße bis Gesundbrunnen.

Da wir nun schon fast eine Stunde überfällig waren, nahmen wir an, daß im Westen alles in heller Aufregung wäre. Aber weit gefehlt - es schien so, als habe man uns doch gar nicht vermißt. Auf Anweisung von Rolf  berichtete ich dem U-Bahn-Bereitschaftsdienst, einem leitenden Herren der U-Bahn, den ganzen Vorfall. Am Vormittag des darauffolgenden Montags wurden wir vom Dienst abgelöst und mußten zum Protokoll in die Hauptverwaltung. Die Vernehmung und die Fertigung des Protokolls dauerten mehrere Stunden. Man wollte nun auch alles wissen, ganz besonders über den Halt auf der freien Strecke, die Kontrolle und die Abführung des Mannes, der sich nicht ausweisen konnte. Zum Schluß haben wir noch das Protokoll unterschrieben. Ich weiß nicht, wer alles von dieser Angelegenheit unterrichtet wurde. Gehört habe ich nie wieder etwas davon.

[3] Zugschaden bei einer Überführungsfahrt am 27.Juni 1969

Das zweite Erlebnis, welches mir in Erinnerung ist, war nicht ganz so dramatisch, aber weil Zeitnot mit ihm Spiel war, gerieten wir ganz schön unter Druck: In der Nacht vom 26. zum 27. Juni 1969 war ich, damals als Zugprüfer, zu einer Überführungsfahrt eingeteilt worden. Es sollte der B1-Triebwagen Nr. 92 (eine “Tunneleule”, die nicht mehr mit eigener Kraft fahren konnte) von Leinestraße zur Betriebswerkstatt Seestraße (Bw See) geschleppt bzw.  geschoben werden. Der Wagen stand schon einige Jahre im “Schlauch”; das waren Abstellgleise hinter den Aufstellgleisen des Bahnhofes Leinestraße - heute als Streckengleise der Linie U8 Richtung Hermannstraße.

Wir starteten nach Betriebsschluß, so gegen 1.15 Uhr. Der Wagen wurde mit einem Werkstattzug (Bauart B1) nach Hermannplatz/oben (Hpo) geschleppt und dann durch den Überführungstunnel zur Linie C und weiter Richtung Bw See geschoben. Als Beleuchtung diente ein an der Stirnwand des Wagens 92 angebrachter Scheinwerfer. Zur Verständigung zwischen geschobenen Wagen und dem Schiebezug stand eine Telefonverbindung zur Verfügung. Die fahrt verlief planmäßig, bis es auf den Bahnhöfen Französische Straße (Fr) und Friedrichstraße (F) plötzlich fürchterlich schepperte und blitzte. Der Fahrstrom war weg, und der Zug wurde schnellstens zum Halten gebracht.

In so einem Moment kommen einem ja die schrecklichsten Gedanken: Entgleisung, Tunneleinsturz, Wagen fällt auseinander ... Das Tunnellicht hatte sich durch den Kurzschluß automatisch eingeschaltet. Ich meldete über Streckenfernsprecher der DZU diesen Vorfall. Mitfahrende Kollegen der Bw See fanden den Grund des Lärms und des Kurzschlusses: Die Ladebordwand eines Materialzuges mußte irgendwann einmal unbemerkt abgefallen und so zwischen Tunnelwand und Stromschiene zu liegen gekommen sein, daß der abgelegte, also nach unten gedrückte Stromabnehmer des Wagens gegen sie stieß und alles in Holz- und Stahltrümmer verwandelte.

Mittlerweile waren zwei Bahnpolizisten [*] vom Bahnhof F, durch den Lärm angelockt, herbeigekommen. Sie halfen mit ihren Taschenlampen, die Ursache und den Schaden festzustellen. Der Stromabnehmer war abgerissen und einige Meter Stromschienenabdeckung zu Kleinholz gemacht worden. Die Kollegen von der Werkstatt See, die etwas Werkzeug dabei hatten, machten sich daran, den Schaden zu beheben. Die Arbeiten waren sehr schwierig, denn zwischen Zug und Tunnelwand war es sehr eng, und zusätzlich behinderte die Stromschiene die Bewegungsfreiheit. Es war jetzt schon nach 2.00 Uhr; um 4.00 Uhr spätestens mußten wir mit unserem Gefährt die Strecke geräumt haben.

Als erstes wurden die Trümmer der Stromschienenabdeckung und der Bordwand beseitigt; sie mußten alle unter dem Zug hervorgeholt werden. Die Demontage des Stromabnehmers konnte - im Wechsel - immer nur eine Person vornehmen, für mehrere reichte der Platz nicht aus. Alles geschah bei einer Beleuchtung, die unter aller Kanone war, und einer Temperatur von über 20 Grad. Von Zeit zu Zeit unterrichtete ich die DZU über den Fortgang der Arbeiten, die wiederum der VUM Mitteilung machte. So gegen 3.40 Uhr waren die Arbeiten beendet. Es wurde noch die Stromschiene genau untersucht, aber sie war nicht beschädigt worden. nachdem der Fahrstrom eingeschaltet war und “stand”, fuhren wir los und erreichten glücklich kurz nach 4 Uhr die Bw See. Untersuchungen des Restes der ehemaligen Ladebordwand ergaben später, daß sie von einem Materialwagen einer Bahnmeisterei der BVG-West stammten. Der Verlust der Wand ist wohl niemanden aufgefallen. Hätte im Tagesverkehr ein Zug mit einem abgelegten Stromabnehmer diese Stelle passiert, dann hätte es eine Betriebsunterbrechung von mindestens einem halben Tag gegeben.

[4] Fahrgastunfall Bahnhof Friedrichstraße am 29. März 1988

Das dritte Ereignis war tragischer Natur, vom Opfer selbst durch bodenlosen Leichtsinn herbeigeführt. Man muss es so ausdrücken, obwohl man über Tote nichts Schlechtes sagen soll. Am Dienstag, den 29. März 1988 saß ich auf Leopoldplatz/unten (Lpu) mit Schreibarbeiten beschäftigt in meinem Büro, als ich von einem Fahrgastunfall auf dem Bahnhof Friedrichstraße, der zu diesem Zeitpunkt zu meinem Fahrmeisterbezirk gehörte, verständigt wurde. Da ich von Lpo auf der Linie 6 nicht nach F gelangen konnte (ab Reinickendorfer Straße war die Strecke blockiert), fuhr ich auf der Linie 9 bis Zoologischer Garten/unten (Zu) und mit der S-Bahn bis Friedrichstraße. Der einzige Zugang zum U-Bahnhof F befand sich im Verbindungstunnel zwischen S-Bahnhof F [*], damals Linie S2, und Linie U6. Polizisten bewachten den geschlossenen Eingang. Ich stellte mich vor, wies mich aus und gab den Grund an, warum ich auf den U-Bahnhof mußte. Anstandslos wurde mir das Tor geöffnet.

Der Bahnhof wirkte gespenstisch, er war genauso wie der Intershop voll beleuchtet, aber es herrschte eine fast unheimliche Ruhe. Alle Fahrgäste, auch des Unglückszuges, waren schon vor meinem Eintreffen hinausgeführt worden. Auf dem Bahnsteig standen etwa 20 Offiziere der Grenztruppe, alle ohne Koppel. Auf dem linken Gleis (Gleis 2) stand - mit anderthalb Wagen im Bahnhof - ein Zug; die Spitzenbeleuchtung war eingeschaltet, ansonsten war er bis auf die Notbeleuchtung dunkel; der Fahrstrom war ja abgeschaltet. Zwischen der ersten und der zweiten Tür des ersten Wagens, eingeklemmt zwischen Zug und Bahnsteigkante, eine Frau - tot. Feuerwehrleute bemühten sich, die Verunglückte zu bergen. Auf einer Bank saßen ein Arzt und ein Sanitäter von der Charité. Auf der anderen Seite der Bank saßen die beiden Zugfahrer (einer war als Zugbegleiter tätig).

Ich meldete mich am Zugabfertiger-Dienstraum bei zwei leitenden Mitarbeitern der Ost-U-Bahn in Zivil. Ich begrüßte dann die beiden Zf und ließ mir den Hergang des Unfalls erzählen. Um die Züge, die sich noch im Transitbereich befanden, nach West-Berlin zu bekommen, wurde beschlossen, nachdem die Stromabnehmer des Unglückszuges abgelegt waren, den Fahrstrom so lange einzuschalten zu lassen. Die beiden Ost-BVGer wickelten den Vorgang ab.

Danach wurde mir großzügig gestattet, über die DZU mit der BLU zu sprechen. Ich berichtete, was ich bis dahin über den Unfall wußte, konnte aber über den Zeitpunkt einer Wiederaufnahme des Verkehrs keine Aussage machen. Mir war nämlich aufgefallen, daß die Feuerwehr mit gänzlich unzulänglichen Mitteln die Leiche zu befreien versuchte. Der Chef der Feuerwehrleute gestand dann auch ein, die Verunglückte nicht bergen zu können. Das war so um 13.15 Uhr. Die beiden Zivilisten rangen sich durch, Mitarbeiter der Betriebswerkstatt Friedrichsfelde (Bw Fi), also U-Bahnhandwerker, kommen zu lassen. Doch vorher mußten noch etliche bürokratische Hürden genommen werden. Der Bahnhof Friedrichstraße war ja für jeden normalen Ostbürger Niemandsland und durfte nicht betreten werden. Mittlerweile tauchte ein weiterer Zivilist auf und stellte sich uns als Kripobeamter [*] vor. Bei solchen Unglücksfällen mit Verletzten oder gar Toten wurde die Kripo immer tätig. Er war ein ruhiger, angenehmer Mensch und ließ sich den ganzen Hergang schildern, dabei machte er seine Notizen.

Was war genau geschehen? Eine 64jährige Frau aus West-Berlin war ins Gleis gesprungen. Der Grund ist unbekannt, denn zeugen gab es keine - vielleicht ist ihr ein Gegenstand ins Gleis gefallen. Die Frau stand nun gebückt im Gleis, als der Zug nahte. Das Zugpersonal sah die Frau erst, als sie sich aufrichtete. Der Zugfahrer betätigte zwar unverzüglich die Schnellbremse, aber der Bremsweg reichte nicht mehr aus, um den Zug vor ihr zum Halten zu bringen. Sie hatte sich noch an die Bahnsteigkante gedrückt, wurde aber vom Zug erfaßt und eingequetscht und war sofort tot. Der Abstand zwischen Zug und Bahnsteig beträgt nur wenige Zentimeter.

Endlich trafen die Schlosser der Bw Fi ein. Sie hatten alle nötigen Gerätschaften und Werkzeuge dabei uns gingen gleich an die Arbeit. Der Stromabnehmerbalken 1 wurde ausgebaut und der Wagen mittels hydraulischer Pressen vorne angehoben. Gegen 15.50 Uhr wurde die Frau endlich geborgen und in die Charité gebracht. Alles wurde nun wieder zurückgebaut, und nach dem Einschalten des Fahrstroms konnte um 16.40 Uhr die Fahrt mit dem Unglückszug zur Bw See stattfinden. Alles in allem hatte die Verkehrsunterbrechung über viereinhalb Stunden gedauert.

[5] Obstbahnhof Jannowitzbrücke

Drei kleine Episoden seien noch erwähnt.

Um die Weihnachtszeit 1962 und ein Jahr darauf noch einmal wurde auf dem U-Bahnhof Jannowitzbrücke (Jb ) Obst gelagert. der ganze Bahnsteig war bis fast an die Decke mit Kisten vollgestapelt, bewacht von der Bahnpolizei [*]. Dort lagerten 1962 Orangen und 1963 Äpfel kühl und trocken. Schon von weitem bemerkte man den Duft, daß man sich dem Bahnhof Jb näherte. In späteren Jahren wurde eine derartige Lagerhaltung nicht mehr beobachtet.

[6] Passierscheinabkommen Weihnachten 1964

Für Weihnachten 1964 war ein Passierscheinabkommen ausgehandelt worden, und die West-Berliner konnten zu ihren Verwandten nach Ost-Berlin fahren. Es war am 26. Dezember, ich war damals Zugfahrer und hatte Nachtdienst, also Dienstbeginn etwa 20.30 Uhr, Dienstende gegen 4.50 Uhr. Der Rückverkehr auf dem Bahnhof Friedrichstraße setzte gegen 20 Uhr ein und erreichte zwischen 22 Uhr und Mitternacht seinen Höhepunkt. Einen Bahnhof so voller Menschen habe ich nie wieder gesehen, auch nicht nach der Maueröffnung. Die Züge konnten nur im Schrittempo ein- und ausfahren, um die Fahrgäste an den Bahnsteigkanten nicht zu gefährden. Es wurden Sonderzüge noch und noch gefahren, alle waren gerammelt voll. Es waren alle glücklich, ihre Verwandten und Freunde im Osten wiedergesehen zu haben. Es ging alles glatt, kein Unfall, keine Störung. Mein Lebtag werde ich diesen Weihnachtstag im Jahre 1964 nicht vergessen.

[7] Fahrzeugüberführung: A2 Züge von West nach Ost, 11/1972

Im November 1972 wurden der BVG-Ost, die sich inzwischen “Berliner Verkehrsbetriebe (BVB)” nannte, zehn Vier-Wagen-Züge der Zuggattung A2 geliefert, die sonst im Westteil verschrottet worden wären. Die Wagen wurden einzeln auf Tiefladern über die Straße von der Bw Gru (Olympiastadion) zur Bw See gebracht und dort wieder zu Vier-Wagen-Zügen zusammengekuppelt. Mittels eines Überführungszuges (Vier-Wagen-Zug der Bauart D) und einer Lore mit Groß- und Kleinprofilkupplung wurden bei insgesamt zehn Fahrten diese A2 -Züge über die Linien 6, 7 und 8 nach Jannowitzbrücke in den Waisentunnel (Verbindungstunnel zwischen den Strecken D und E) geschoben, dort abgekuppelt und von einem Fahrzeug der Ost-BVG übernommen. Bei jeder Fahrt stieg auf Seestraße immer ein Herr von der Ost-BVG zu und begleitete den Transport. Er sprach kaum ein Wort und stieg am Waisentunnel wieder aus.

Mit freundlicher Genehmigung zur Verwendung im Magazin Berliner Verkehrsseiten vom Jaron- Verlag (Dr. Norbert Jaron vom 16.8.2010) und dem Buchautor (Horst Bosetzky vom 23.8.2010) aus dem Buch

Tegel Zurückbleiben bitte! U-Bahn-Erinnerungen von Horst Bosetzky, Uwe Poppel und drei ehemaligen Fahrern”,

 entnommen (in der damaligen Rechtschreibung, Seiten 123 bis 130). Erschienen 1999 ISBN 3-89773-000-6. Einer Weiterverwendung des Textes können die Berliner Verkehrsseiten nicht erlauben, daher ist der Export (kopieren oder speichern) in andere Medien aus rechtlichen Gründen verboten.

[*] Anmerkung zum Text von der Redaktion BVS:

  • Bei der im Text wiederholend genannten Bahnpolizei handelt es sich um die Transportpolizei des Ministeriums des Innern. Eine Bahnpolizei wäre dem Verkehrsministerium unterstellt gewesen, und gab es daher in Ostdeutschland 1962 - 1990 nur in Westberlin auf dem Betriebsgelände der Deutschen Reichsbahn.
  • Der Begriff “Kripobeamter” ist nicht korrekt, da es in der DDR keine Beamten des Staates gab. Es handelt sich hier um einen Mitarbeiter der Kriminalpolizei (Transportpolizei).
  • Der S-Bahnhof Friedrichstraße auf der Nordsüd-Bahn (Tunnel) trägt / trug nicht die telegrafische Abkürzung F.
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FAK Berliner Verkehrsseiten 3/2010