Das Geschichtsmagazin zum Berliner Nahverkehr - Berliner Verkehrsseiten
U-Bahn Berlin

Die mechanische Fahrsperre

Die Berliner Hoch- und Untergrundbahn begann ihren öffentlichen Fahrbetrieb am 18.2.1902 ohne Zugsicherungssystem. Die vom Stellwerkspersonal bedienten Form- und Lichtsignale regeln den Abstand zwischen den Zügen und verhindern, dass zwei Züge auf eine zusammenführende Weiche eine Fahrterlaubnis erhalten. War der Zugfahrer nicht voll konzentriert und beachtete die angezeigte Signalisierung nicht, wurde der Zug nicht durch eine technische Überwachungseinrichtung angehalten. Am 26.9.1908 kam es zu einer schweren Flankenfahrt am Hochbahnhof Gleisdreieck: Zwei Züge befuhren gleichzeitig die zusammenführende Weiche 2, die Wagen drückten sich seitlich von der Hochbahn.

Unfall-1908_G

Flankenfahrt am Gleisdreieck (26.9.1908)

Die mechanische Fahrsperre im Berliner Kleinprofil:

 Bauform “Holzstab”:

Nach dem Unglück wurde nicht nur der Umbau des Gleisdreiecks diskutiert, sondern auch die fehlende Zugsicherung. Die Königliche Eisenbahndirektion Berlin (fungierte damals als eine Art “Aufsichtsbehörde” für die Hochbahn) beauftrage die Hochbahngesellschaft, einen Entwurf für die Anbringung von “Streichbalken” für das Streckennetz vorzulegen. Anforderung an das System war gewesen, bei unzulässiger Überfahrt eines Haltesignals selbsttätig eine Zugbremsung auszulösen, wobei zu berücksichtigen war, dass nicht nur eine Auslösung der Druckluftbremse genügte, sondern auch der Motorstrom abgestellt wird und die Motoren kurzgeschlossen werden.

Bereits am 20. Oktober 1908 konnte die Firma Siemens & Halske technische Entwürfe vorlegen. Nach einigen Verhandlungen (Siemens riet von der Kurzschlußbremsung ab und prognostizierte längere Bremswege durch das mögliche Blockieren der Achsen) über technische Details (der plombierte Umschalter zur gewollten Vorbeifahrt an einem Haltesignal wurde von Siemens empfohlen aber vom Minister für Arbeit abgelehnt) fand am 8. Januar 1909 um 11:30 Uhr an Bahnhof Möckernbrücke eine gelungene Versuchsfahrt zum Potsdamer Platz statt.

Das Ergebnis war eine noch leicht von der späteren Version abgeänderte Form der mechanischen Fahrsperre:

Der Ausleger am Signalmast durchtrennte einen dünnen Holzstab, dadurch zog eine Feder einen Ventilhebel runter, die Auslösung ist erfolgt. Über einen Messingzylinder wirkte die Schaltung auf das Fahrerbremsventil ein und löste den Starkstromautomaten aus, der Fahrstrom zu den Motoren war unterbrochen. Im Wageninnern wurde die Auslösung über eine rote Merkklappe dem Zugbegleiter angezeigt. Siehe Zeichnung:

Erste Fahrsperrenversion von Siemens&Halske für die Berliner U-Bahn (1909)

Funktionszeichnung erste Fahrsperrenversion Berliner Hochbahn: Der Holzstab zerbrach, das Ventil öffnete sich, der Messingzylinder schlug aus, der Fahrstrom war über die Wagenhauptsicherung unterbrochen, das Fahrerbremsventil war geöffnet und die Bremsung erfolgte.

Nach der unzulässigen Vorbeifahrt hatte der Zugbegleiter vor der Weiterfahrt zunächst an Ort und Stelle einen neuen Fahrsperrenstab auf dem Wagendach einzusetzen. Dazu nutzte er einen unter der rechten Sitzbank untergebrachten Holztritt, der in den Rahmen der Sitzbank eingesteckt wurde. Nun öffnete er mit einem Dreikantschlüssel das Oberlichtfenster und führt den neuen Holzstab durch Hochdrücken des Ventilhebel wieder in die Position. Erst nachdem der Holzstab den Ventilhebel wieder in die Normalstellung gebracht wurde, lässt sich der Starkstromautomat wieder zuschalten und der Messingzylinder lässt von der Druckluftbremsung ab.  Die Signalklappe im Wageninnern bleibt jedoch ausgelöst, der Wagen muss nun umgehenst der Wagenmeisterei zugeführt werden und das Ereignis ist somit dokumentiert. Die Schaltung für Triebwagen mit elektrisch gesteuerter Druckluftbremse war ähnlich konstruiert.

Zunächst wurden nur die 6 Hauptsignale am Gleisdreieck mit diesen Auslegern versehen. Ab Juli 1909 war die Fahrsperreneinrichtung am Gleisdreieck dauerhaft in betrieb. Bis zum 15. Oktober 1909 waren alle Triebwagen mit dieser ersten Form der mechanischen Fahrsperre ausgerüstet worden.

Wöchentliche Funktionsprobe:

Gemäß Verfügung der Aufsichtsbehörde mussten Fahrsperren und Notbremsventile jeden Monat einmal einer eingehenden Untersuchung in der Werkstätten unterzogen werden. Ferner war an jedem Donnerstag nach Betriebsschluß eine Fahrsperrenprobe durch Überfahren eines der mit Auslegern versehenen Ausfahrsignale des Gleisdreiecks in der Haltstellung vorzunehmen. Die Probe musste mit eingeschalteten Motoren, und zwar jedes Mal an einem anderen Signal ausgeführt werden, so dass jedes der sechs Ausfahrsignale innerhalb von sechs Wochen einmal die Fahrsperre an einem Zuge auslöst. Nachdem war festzustellen, in welcher Höhe der Holzstab von dem Ausleger durchschlagen worden und wie weit der Zug mit seiner Spitze noch über das Signal hinaus gefahren war. (aus [1])

Die Hochbahngesellschaft beklagte im Mai 1911 bei der Aufsichtsbehörde die zeitaufwendige Verfahrensweise zum Einlegen des neuen Holzstabes wenn bei Signalstörungen an Haltbegriffen vorbeigefahren werden musste. Eine plombierte Hilfsschaltung für die gewollte Vorbeifahrt am Haltesignal war von Siemens zwar vorgeschlagen, aber aufgrund des Einspruchs des Preußischen Ministers für Arbeit nicht konstruiert worden. Problematisch erwiesen sich auch Triebwagen mit Fahrständen im Zugverband, die nach dem Wechseln des Auslösestabes am ersten Triebwagen nach der Weiterfahrt nochmals ausgelöst hatten ...

 Bauform “Auslösehebel”:

Aufgrund der Schwierigkeiten mit der Bauform “Holzstab” wurde die Fahrsperre weiterentwickelt. Der Holzstab wurde durch einen eisernen Auslösehebel ersetzt, der die gleiche Funktion wie mit dem Holzstab erzielte. Zum Rückstellen der Fahrsperrenauslösung musste der Zugbegleiter nun nur einen plombierten Vierkantschlüssel in die Achswelle des Auslösestabes im Wageninnern anstecken und den Stab durch eine Halbdrehung wieder aufrichten. Ab 1912 waren die ersten Züge mit dem eisernen Auslösehebel unterwegs. Zudem konnten Auslösehebel mittig eingekuppelter Triebwagen mit Fahrstand durch eine dritte Umlegstellung (nach vorne) unwirksam geschaltet werden .

Mechanische Fahrsperre der Berliner Hochbahn ab 1912 mit Auslösehebel

Funktionsprinzip der mechanische Fahrsperre mit Auslösehebel (erste Schaltungsform), 1912

Signal zeigt Halt! Der Auslösehebel auf dem Zugdach wurde umgelegt, der Zug  gebremst. Berliner U-Bahn            Signal zeigt Fahrt! Der Fahrsperrenausleger ist in 45°  Fahrtlage, der Auslösehebel auf dem zugdach kann das Signal ohne Zwangsbremsung  passieren. Berliner U-Bahn

Die ersten Lichtsignale auf der Hochbahn 1912: Demonstration der mechanischen Fahrsperre beim Kleinprofil

Jedes Signal bekommt einen an den Signalstrom gekoppelten Antriebsmotor, der je nach Signalbegriff (Fahrt oder Halt) einen Fahrsperrenausleger in Dachhöhe der Züge bewegt. An den Zügen wurde ein Auslösestab auf dem Dach montiert, der bei Vorbeifahrt an einem in Haltlage befindlichen Fahrsperrenauslösehebel des Signals umgelegt wird, und dadurch eine Schnellbremsung am Fahrzeug auslöst.

Lichtsignal Hochbahn (Westinghouse) mit geöffneten Schaltkasten          Formsignal nachgerüstet mit Westinghouse-Fahrsperren-Ausleger

Auch die Flügelsignale auf der Hochbahn wurden nun mit den mechanischen Fahrsperrenauslösern nachgerüstet. Hinter den Signalen wurde ein Schutzabstand, der sich aus der zulässigen Fahrgeschwindigkeit vor dem Signal, den Fahrparametern (bspw. Streckenneigung) und den Bremseigenschaften der verwendeten Zugtypen berechnet.

 Weiterentwicklung des  Auslösehebels am Wagendach:

Fahrsperrenauslöseeinrichtung Fahrzeugdach Zugtyp AI der Berliner U-Bahn in Normalstellung

Abbildung oben: Auslösehebel (a) in Normalstellung: Der Auslösehebel steht senkrecht

Abbildung unten: Der Auslösehebel (a) wurde bei unzulässiger Vorbeifahrt an einem Haltesignal umgelegt, der Fahr- und Steuerstrom des Triebwagens unterbrochen (c), somit keine weitere Ansteuerung der Fahrmotore im Zugverband möglich ist. Über einen Seilzug (h) wird ein Bremsventil geöffnet, wie auch bei der Notbremse im Fahrgastraum konstruiert. Links mündet die Rückstellachse (g) im Fahrgastraum, der Zugfahrer über einen plombierten Handgriff den Auslösehebel wieder in Grundstellung zurückstellen kann.

Fahrsperrenauslöseeinrichtung Fahrzeugdach Zugtyp AI der Berliner U-Bahn in Auslösestellung

Die mechanische Fahrsperre beim Berliner Kleinprofil blieb im Westnetz bis 1983, im Ostnetz gar bis etwa 1992 in Funktion. Heute wird mit einer elektro-magnetischen Fahrsperre gearbeitet.

Carsten Lau - 0172

Zugtyp A3: Abfahrtsignalgeber für den Zugbegleiterbetrieb, rechts auf der Frontseite das Rückstellschloss für die mechanische Fahrsperre. Ab dem Zugtyp A3L82 haben die Triebwagen der BVG-West  keine mechanische Fahrsperreneinrichtung mehr erhalten.

Fahrsperren-Aussparung über der ersten Tür  auf der Fahrerseite

An den A3-Zügen der Baujahre vor 1982 kann man noch die Aussparung für den Auslösehebel über der ersten Tür auf der rechten (Fahrer-) Seite erkennen.

Letzte mechanische Fahrsperren im Westnetz am Bahnhof Olympiastadion (Sd) bis 1983

Signal 10 Bahnhof Olympia-Stadion (Sd), rechts vom Gleis der Fahrsperrenhalter, Fahrsperre in Fahrtlage

Lichtsignal mit mechanischen Fahrsperrenauslöser (rechts) auf der Hochbahn in der Schönhauser Allee

Mechanische Fahrsperre bei der Berliner Hochbahn, 1987

Stw Sd 1982 Prüfgl Sig mit Hp 1 Foto Detlef Jentzsch  Stw Sd Prüfgl

Besonderheit Stellwerk Olympia- Stadion: Die Abzweigung auf das Prüfgleis am Bahnhof Olympia- Stadion. Die mechanische Fahrsperre zeigt hier auch “Fahrt” wenn das Signal Halt zeigte. Grund: Das Hauptsignal gehört zum Stellwerks Olympia- Stadion. Finden Prüffahrten auf dem Prüfgleis statt, bleibt die Weiche zwar festgelegt, aber das Signal verbleibt auf Halt. Die Prüffahrten konnten nach fernmündlicher Rücksprache trotz Halt- Begriff stattfinden. Auf dem Prüfgleis wurden Fahrerausbildungen und Bremsprobefahrten durchgeführt. Die Magneten auf der Prüfstrecke wurden vom Prüfstellwerk (separates Stellwerk für die Bedienung der Signale auf dem Prüfgleis) wirksam oder unwirksam geschaltet.

Die mechanische Fahrsperre im Berliner Großprofil:

Die Montage des Signalbremsauslegers am Signalmast oder in gleicher Höhe an der Tunnelwand birgt die Gefahr mit sich, bei Gleisverlagerungen nicht genau des Auslösehebel zu treffen. Der Gedanke lag nahe, eine Signalfahrsperre im Gleisbett montiert und den Auslösehebel unter dem Drehgestell des Wagens anzupassen. Diese beiden Punkte immer in einem festen Verhältnis zueinander. Auf der ersten Großprofilstrecke C (Seestraße - Hallesches Tor) wurde die mechanische Fahrsperre für das Großprofil eingebaut: Ein Fahrsperrenpilz im Gleisbett, angetrieben über eine Achswelle die im elektrischen Motor mündet. Am Drehgestell der Triebwagen war der Auslösehebel montiert.

Funktionsaufbau mechanische Fahrsperre Großprofil - Berliner U-Bahn ab 1923

Funktionsaufbau mech. Fahrsperre Großprofil der Berliner U-Bahn: der Auslösehebel (f) ist am Stromabnehmerbalken des Drehgestells montiert, der Fahrsperrenpilz (x) an der aussenliegenden Fahrschiene (links). Der Fahrsperrenzylinder (c) löst ähnlich der Kleinprofilsperre die Luftdruckbremse aus und unterbricht die Stromzufuhr zu den Fahrmotoren. Über den Einstellentlüfter (n) kann die Fahrsperrenauslösung wieder zurückgestellt oder unwirksam geschaltet werden.

Für gewollte Vorbeifahrten an haltzeigenden Signalen kann die mechanische Fahrsperre durch das Lösen einer Plombe (und dem schriftlichen Nachweis über den Grund) deaktiviert werden. An mittig gekuppelten Triebwagen müssen die Fahrsperren mit Hilfe des Ausschaltentflüfters (b) unwirksam geschaltet werden, um ein Auslösen der Fahrsperre an den Triebwagen zu vermeiden (da sich das Signal und der Fahrsperrenpilz nach Vorbeifahrt der ersten Zugachse am Signal in Haltlage  verwandelt). Für die C-Züge wurde diese Schaltung aufgrund der veränderten Zugschaltung leicht modifiziert. Die Zuverlässigkeit dieser Fahrsperre bewährte sich sehr.

Mit Betriebsaufnahme auf der Strecke C waren alle Triebwagen (anfänglich wurden Kleinprofilwagen A1 mit dieser Fahrsperre versehen, da die Auslieferung der Großprofilserie B sich etwas verzögerte) und Hauptsignale mit dieser Fahrsperre ausgerüstet.

1mechanische_fahrsperre_Grp

L_Fahrsperrenpilz

Bahnhof Leinestraße: elektrischer Antriebsmotor mit der Achswelle zum Fahrsperrenpilz (hier in Haltlage).

In Westberlin wurde die mechanische Fahrsperre im Großprofilnetz (Grp) ? außer Betrieb genommen. In Ostberlin bei der BVB wurde die Umrüstung (zunächst doppelte Auslegung) ab März 1994 bis bis April 1995 vorgenommen. Heute wird wie beim Kleinprofil mit der elektro-magnetischen Fahrsperre gearbeitet.

Bstg_Ausf_L_R_Hermannstr_Foto_Harald_Kunkel

Links unter dem Laufsteg: Die mechanische Fahrsperre

Im Berliner U-Bahnmuseum (U-Bhf. Olympiastadion) befinden sich die mechanischen Fahrsperren zur Demonstration. Von den ehrenamtlichen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Berliner U-Bahn wird die technische Funktion ausführlich erläutert.

Simulationsanlage mechanische Fahrsperre  Großprofil im Berliner U-Bahnmuseum (U-Bhf. Olympiastadion)

Quellen:

  • Unterlagen aus dem Redaktionsarchiv Berliner Verkehrsseiten (Pläne, Bilder)
  • [1] Mitarbeiterzeitung “Die Fahrt” (BVG), 1. April 1936, “Pionierdienste der U-Bahn - Die Wagen-Fahrsperre” von Kraft
  • Hinweise und Ergänzungen aus dem freien Redaktionskollektiv Berliner Verkehrsseiten: Jentzsch
  • “Die selbsttätige Signalanlage der Berliner Hoch- und Untergrundbahn nebst einigen Vorläufern” von Dr.Ing. Gustav Kemmann (Geheimer Baurat), Berlin 1921
  • “Die selbsttätige Signalanlage der Berliner Hoch- und Untergrundbahn” von Alfred Bothe, Berlin 1928
  • Webseite www.stellwerke.de von Holger Kötting
  • Berliner U-Bahnmuseum
  • Hersteller  Westinghouse Power Signal Co. Ltd (heute Invensys Rail) www.invensysrail.com
  • Der Hersteller: Siemens mobility
  • Weiterführende Erläuterung “Zugsicherung” bei Wikipedia

Text und Zusammenstellung: Markus Jurziczek von Lisone, BVS 4/2010

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